Ethnische Minderheiten / 少数民族
Kurzgefasst
Im Kontext der UN bezieht sich der Ausdruck Ethnizität im Allgemeinen auf die gemeinsame Herkunft sowie die gemeinsame Sprache, Bräuche und Glaubensvorstellungen einer Gruppe, kann aber dementsprechend nur subjektiv definiert und abgegrenzt werden. Der Begriff der ethnischen Minderheiten entstand mit der Schaffung des Nationalstaates, der auf einer konstruierten Nationalität bzw. einer ethnischen Mehrheit aufbaute.
Die Kommunistische Partei Chinas hat die Bevölkerung in ethnische Gruppen bzw. Nationalitäten unterteilt, die aus 55 Minderheiten und der Mehrheit der Han (汉族), einem Konstrukt des späten 19. Jahrhunderts, bestehen. Bei der Volkszählung 2021 wurden 125 Millionen Chinesen – fast neun Prozent der Bevölkerung – als Angehörige der offiziellen Minderheitengruppen klassifiziert, darunter beispielsweise Mongolen, Tibeter und Uiguren.
Chinas ethnische Vielfalt und sein großes Territorium sind zum Teil auf frühere Eroberungen zurückzuführen. Da dieser historische Expansionismus nicht zum offiziellen Narrativ einer „friedliebenden chinesischen Zivilisation“ passt, behauptet die KPCh, „ein seit dem Altertum vereintes multiethnisches Land“ zu regieren.
Analyse
Nach Gründung der Republik China im Jahr 1912 schlug ihr erster Präsident Sun Yat-sen vor, dass China aus einem Zusammenschluss von fünf minzu (民族, Nationalitäten bzw. ethnische Gruppen) verstanden werden sollte: Han, Mandschu, Mongolen, Tibeter und (Hui-)Muslime. Diese Einteilung wurde bald durch das Konzept der zhonghua minzu (中华民族) – chinesische Nation, chinesisches Volk bzw. chinesische „Rasse“ – ersetzt, einer Super-Ethnie mit einer vermeintlich gemeinsamen Abstammung, die nach wie vor ein wesentlicher Bestandteil der Rhetorik der KPCh in ethnischen Angelegenheiten ist.
In ihren Anfangsjahren zog die Kommunistische Partei Chinas in Erwägung, den Nicht-Han-Minderheiten die Unabhängigkeit von China einzuräumen.[1] Nach Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 leitete der chinesische Staat jedoch ein „Projekt zur ethnischen Klassifizierung“ in die Wege, das von Forschern als eine der großen Kolonisierungsmissionen des 20. Jahrhunderts bezeichnet wurde.[2] Durch das Projekt wurde die Bevölkerung nach den Kriterien Joseph Stalins (eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsames Territorium und Wirtschaftsleben und eine gemeinsame psychische Wesensart) in ethnische Gruppen eingeteilt. Die meisten Nationalitäten wurden in den 1950er Jahren klassifiziert. Bis 1979 stieg ihre Zahl auf 56, was nach wie vor der Standard ist.
Einige der vom chinesischen Staat offiziell anerkannten ethnischen Minderheiten sind Teil größerer Volksgruppen, die hauptsächlich außerhalb der Grenzen der VR China leben, wie ethnische Kasachen, Kirgisen und Tadschiken. Einige ethnische Gruppen, die international stark vertreten sind, wurden dagegen nicht in die Liste der 55 offiziellen Minderheiten Chinas aufgenommen. Dazu gehören die Hakka (die den Han zugeordnet werden) und die Hmong (die zur Minderheit der Miao gezählt werden).
Heute werden die ethnischen Minderheiten im offiziellen Diskurs zwar als besondere Gruppen, aber mit den Han vereint als Teil der „chinesischen Nation“ dargestellt. Der damit verbundene Herrschaftsanspruch der chinesischen Regierung erstreckt sich teils über Landesgrenzen. Zum Beispiel schließt der Parteistaat auch Bürger:innen anderer Staaten mit chinesischer Herkunft oder Abstammung ein, sowohl Han-Chines:innen, aber auch Angehörige anderer Gruppen bzw. deren Nachkommen. Des Weiteren zählt die chinesische Regierung auch die Gaoshan (高山族) in Taiwan zu den ethnischen Minderheiten der VR China. Mit diesem Sammelbegriff beschreibt sie 16 von der taiwanesischen Regierung offiziell anerkannte indigene Gruppen. China behauptet seinerseits, keine indigenen Völker zu haben, da es sonst seine Geschichte der Kolonialisierung anerkennen müsste.
Chinas Minderheiten werden bis heute oft als primitiv und sogar minderwertig angesehen, insbesondere von den Han-Eliten.[3] In den offiziellen Medien werden Minderheiten meist stereotyp als von der Mehrheit getrennt dargestellt; tanzend, singend und in traditionellen Trachten. Auch Delegierte des Nationalen Volkskongresses, Chinas gesetzgebender Körperschaft, die Minderheiten angehören, erscheinen grundsätzlich immer in traditioneller Bekleidung.
In der chinesischen Verfassung heißt es, dass Chinas Nationalitäten gleichberechtigt sind. Der zeitgenössische offizielle Diskurs beschreibt die Beziehung zwischen den Volksgruppen als so eng wie die „Kerne in einem Granatapfel“. Der Verfassung zufolge verfügen alle ethnischen Gruppen über „die Freiheit, ihre eigene gesprochene und geschriebene Sprache zu verwenden und weiterzuentwickeln und ihre eigenen Traditionen und Bräuche zu bewahren oder neu zu gestalten.“
Tatsächlich sind die ethnischen Minderheiten jedoch zunehmend den Zwängen der „zweiten Generation der Minderheitenpolitik“ (第二代民族政策) ausgesetzt, ein politisches Programm, dass die Schaffung einer einheitlichen nationalen Identität in den Vordergrund stellt und die Rechte ethnischer Minderheiter auf ihre eigene Kultur, Sprache und Identität massiv einschränkt. Den Minderheitengruppen fehlt es an einer nennenswerten politischen Beteiligung. Nur wenige Gruppen sind im Zentralkomitee vertreten, und nur selten erreichen Angehörige der ethnischen Minderheiten die höheren Ebenen der politischen Macht.
[1] Fiskesjö, M., „The Legacy of the Chinese Empires Beyond ‘the West and the Rest’”, Education about Asia, Bd. 22, Nr. 1 (2017), S. 6-7.
[2] Tapp, N., „In Defence of the Archaic: A Reconsideration of the 1950s Ethnic Classification Project in China”, Asian Ethnicity, Bd. 3, Nr. 1 (2002), S. 63-84.
[3] Blum, S. D., Portraits of ‚Primitives‘: Ordering Human Kinds in the Chinese Nation, Rowman & Littlefield Publishers, 2000.