Internationales Recht / 国际法
KURZGEFASST
Das Völkerrecht bezeichnet die Gesamtheit der Regeln und Grundsätze, die Beziehungen zwischen Staaten und anderen internationalen Akteuren regeln. Es basiert auf Verträgen und dem Völkergewohnheitsrecht, das sich über etwa vierhundert Jahre zurückverfolgen lässt und ständig weiterentwickelt. In erster Linie verlangt das Völkerrecht die Achtung der Souveränität und Gleichheit der Staaten. Staaten haben generell das Recht, Vorschläge für neue internationale Rechtsnormen anzunehmen oder abzulehnen. Seit der Verabschiedung der UN-Charta im Jahr 1945 ist das Völkerrecht weit über dieses Grundkonzept hinausgewachsen. Heute umfasst es das Verbot der Gewaltanwendung gegen andere Staaten, die Menschenrechte und das humanitäre Recht, sowie die Rechenschaft für internationale Verbrechen wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Durch neue Anliegen entstehen zudem neue Bereiche und Normen des Völkerrechts, wie das Weltraumrecht, die Internet-Governance und das Umweltrecht.
Nach chinesischem Verständnis sind die Kernprinzipien des Völkerrechts staatliche Souveränität, Nicht-Aggression und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. China betrachtet das liberale Nachkriegsmodell des Völkerrechts, das seit den 1990er Jahren vorherrschend ist, primär als Instrument westlicher Hegemonie und Interventionismus. Seit 2015 vertritt China auf der internationalen Bühne das Konzept einer „Gemeinschaft mit geteilter Zukunft für die Menschheit“ (人类命运共同体) und betont dabei „gemeinsame“ statt universelle Werte. Dies wird als ein inklusiveres, demokratischeres und faireres Modell als das derzeitige internationale System dargestellt.
ANALYSE
Die VR China nahm 1971 ihren Sitz als „einzige legitime Vertreterin Chinas bei den Vereinten Nationen“ ein. Bis zum Beginn der Reform- und Öffnungspolitik in 1978 war China jedoch weitgehend ein Außenseiter im internationalen Rechtssystem. Erst nach dem Ende der Kulturrevolution kam es zu einer Abkehr vom ideologischen Kampf gegen den kapitalistischen Westen. Die Volksrepublik wurde zu einer aktiven Teilhaberin in wichtigen internationalen Organisationen und Rahmenwerken. China trat den wichtigsten Verträgen über Handel und Investitionen, Staatlichkeit und Territorium sowie Menschenrechte bei.
Chinas Umgang mit dem Völkerrecht ist dabei jedoch auch instrumentell und selektiv. Es nutzt Regeln, die für die eigene Entwicklung vorteilhaft sind, und meidet oder umgeht Regeln, die ihm Nachteile bringen könnten. Prominente Beispiele sind Chinas Beharren auf seinem Status als „Entwicklungsland“ in der Welthandelsorganisation (WTO) und seine unilaterale Durchsetzung von Gebietsansprüchen im Südchinesischen Meer.
China strebt nicht danach, das etablierte, auf die Vereinten Nationen ausgerichtete internationale System zu ersetzen. Stattdessen ist die chinesische Führung bemüht, diejenigen Teile des internationalen Rechts umzugestalten, die mit ihren nationalen Interessen in Konflikt stehen. Seit Deng Xiaopings erster Rede vor der UN im Jahr 1974 ist China bestrebt, sich als ein friedliches Entwicklungsland und eine verantwortungsbewusste Großmacht ohne hegemoniale Absichten dazustellen. Dies wird dem Westen und seiner langen Historie von Imperialismus und Eigennutz in der Schaffung internationaler Regelwerke vorgeworfen.
Im Narrativ der KPCh wird die Volksrepublik als die wahre Hüterin des Völkerrechts präsentiert. So argumentiert die Führung beispielsweise, dass sie „die Autorität und Würde des Völkerrechts nicht verletzt, sondern aufrechterhält“, wenn sie die Entscheidung eines internationalen Schiedsgerichts von 2016 über konkurrierende Gebietsansprüche zwischen der VR China und den Philippinen im Südchinesischen Meer nicht anerkennt. UN-Bewertungen der Menschenrechtslage in Hongkong und Xinjiang werden regelmäßig als „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ und als vom Westen orchestrierte „Hetzkampagnen“ abgetan.
In der letzten Dekade hat sich China unter der Führung von Xi Jinping in der UN von passivem Mitspieler zu einem aufstrebenden Gestalter internationaler Normen entwickelt. Angesichts der unsicheren Aussichten für die globale Wirtschaft und demokratischen Aufständen in anderen Teilen der Welt macht sich der Parteistaat zunehmend Sorgen um Regimestabilität. In seiner Außenkommunikation hat er begonnen, für das chinesische Regierungsmodell zu werben. Dieses zeichnet sich durch eine Verbindung des Engagements für eine global integrierte Wirtschaftsordnung mit der Bekräftigung eines starken Staates ohne liberal-demokratische Kontrollen aus.
Xis Vision der internationalen Ordnung betont dabei die staatliche Souveränität, die Nichteinmischung und die „Win-Win-Kooperation“ auf der Grundlage der „gemeinsamen Werte Frieden, Entwicklung, Fairness, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit“. Betrachtet man das offizielle Verständnis dieser Begriffe, strebt China damit die Rückkehr zu einer Konzeption des Völkerrechts aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg an, wonach die staatliche Souveränität über den Menschenrechten steht.
In dem Maße, wie China wirtschaftlich und politisch an Gewicht gewinnt, wächst auch sein Bestreben, die Wirkkraft seiner nationalen Gesetzgebung auszuweiten, internationale Normen zu prägen und seine Jurisdiktion im Ausland durchzusetzen. So wurde beispielsweise das Übereinkommen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit über die Bekämpfung von Terrorismus, Separatismus und Extremismus aus dem Jahr 2003 genutzt, um „Sicherheitsbedrohungen“ in Xinjiang und Hongkong zu bekämpfen und auf Chinas Verlangen Verdächtige und Dissidenten auszuliefern. Vor diesem Hintergrund hat Xis Projekt, eine „auslandsbezogene Rechtsstaatlichkeit“ (涉外法治) und ein „Rechtssystem mit extraterritorialer Geltung“ zu schaffen, weitreichende Implikationen für die Zukunft des internationalen Rechts.