Modernisierung / 现代化
Kurzgefasst
Nach einer weltweit geteilten Auffassung ist die Moderne eng mit dem Fortschritt verbunden. Modernisierung bezeichnet den Entwicklungsprozess von einer „vormodernen“ oder „traditionellen“ zu einer „modernen“ Gesellschaft. Im westlichen Denken wird die Modernisierung nicht nur mit technischem Fortschritt, sondern auch mit Säkularisierung, Demokratisierung und der Förderung der Menschenrechte in Verbindung gebracht. Sie ist eng mit den Ideen der Aufklärung und der Rationalität verknüpft.
Der Gedanke, dass Modernisierung nicht „Verwestlichung“ bedeutet, ist schon lange vor der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) entstanden. „Chinesisches als Substanz, westliches für die Praxis“ (中体西用) war der Slogan chinesischer reformorientierter Intellektueller nach der Niederlage in den Opiumkriegen. Dieser Ansatz wurde von der KPCh übernommen, deren Führer betonten, dass China keine „Modernisierung nach westlichem Vorbild“, sondern eine „Modernisierung im chinesischen Stil“ (中国式现代化) anstreben werde. Eine, die die Industrie, die Landwirtschaft, die Armee sowie Wissenschaft und Technologie modernisiert – aber keine politische Liberalisierung oder Demokratie beinhaltet. Letzteres hat, nach Ansicht der KPCh, zu sozialen Konflikten in den westlichen Gesellschaften geführt – ein Schicksal, vor dem China nur durch die Führung der KPCh und eine sozialistische Modernisierung bewahrt werden könne (社会主义现代化).
Analyse
Li Shulei, der einst die Propagandaabteilung der KPCh leitete, beschrieb die Modernisierung als etwas, das China zunächst vom Westen aufgezwungen, dann aber zu einer inneren Notwendigkeit wurde. Diese Ansicht ist tief im historischen Gedächtnis Chinas verankert. Seit der Niederlage gegen die technisch überlegenen Nationen Großbritannien und Japan im 19. Jahrhundert wurde technologische Modernisierung als der Weg für China gesehen, Rückständigkeit und nationale Demütigung zu überwinden. Über den Kampf für nationale Selbstbestimmung war Modernisierung zudem eng mit dem Antiimperialismus verknüpft.
Sun Yat-sen, der als der „Vater des modernen China“ gilt, vertrat in den Drei Prinzipien des Volkes (1911) die Auffassung, dass die Steigerung der „Volkswohlfahrt“ (民生) durch wirtschaftliche und industrielle Entwicklungsprogramme Voraussetzung für den Aufbau einer „Volksgemeinschaft“ (民族主义) und die Verwirklichung der nationalen „Selbstbestimmung“ (自决权) sei.[1] Bis heute beanspruchen sowohl die KPCh als auch die Guomindang (KMT, heute eine der Regierungsparteien in Taiwan) das geistige Erbe Sun Yat-sens für sich. In Suns Fußstapfen sahen Chen Duxiu und Li Dazhao, die 1921 die KPCh gründeten, die Modernisierung als Kernstück des antiimperialen und antikolonialen Kampfes und als Mittel zur Verbesserung der Lebensgrundlagen der Menschen sowie zum Ausbau der Kapazitäten für eine unabhängige Entwicklung.
Überdies verbanden die frühen Kommunisten Chinas Modernisierungsbestrebungen mit denen anderer armer Länder: Liu Shaoqi erklärte 1945, dass der von China eingeschlagene Pfad wegweisend sein würde für südostasiatischen Länder, die sich in einer ähnlichen Situation befänden.[2] Später wurde das Modernisierungsbestreben Chinas durch seine Auslandshilfe auf andere Länder ausgedehnt.
Beginnend mit Mao Zedong machten die Führer der KPCh deutlich, dass China eine „sozialistische Modernisierung“ anstreben würde. In der Mao-Ära bedeutete das, dem Beispiel der Sowjetunion folgend die Industrie, Landwirtschaft, Verteidigung sowie Wissenschaft und Technologie zu modernisieren. Der „Große Sprung nach vorn“ war Maos Versuch, die Umwandlung der chinesischen Wirtschaft von einem Agrar- zu einem Industriestaat zu beschleunigen – was in einer landesweiten Hungersnot endete.
Die „Vier Modernisierungen“ in Industrie, Landwirtschaft, Verteidigung sowie Wissenschaft und Technologie wurden in Folge zum Kernstück von Deng Xiaopings Reform- und Öffnungspolitik. Gegenüber dem Westen argumentierte Deng: „Unsere vier Modernisierungen sind vier Modernisierungen im chinesischen Stil“. Dazu gehörten die „sozialistische Marktwirtschaft“ mit einer Kombination aus staatlichen Elementen und der Privatwirtschaft, der Einsatz ausländischer Technologie und politische Experimente. Die Forderungen nach einer „Fünften Modernisierung“, die von der Demokratiemauer-Bewegung um Wei Jingshan vorgebracht wurden, lehnte Deng jedoch ab: Demokratie im liberalen Sinne.
Xi Jinping hat die Modernisierung im chinesischen Stil als Weg zur „großen Renaissance der chinesischen Nation“ bezeichnet, die China bis zum 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik im Jahr 2049 erreichen will. Ein Meilenstein auf diesem Weg ist es, bis 2035 „gemeinsamen Wohlstand“ zu erlangen und ein Land mit mittlerem Einkommen zu werden. Im Jahr 2022 wurde auf dem 20. Parteitag das Ziel der „Modernisierung im chinesischen Stil“ in die Parteiverfassung aufgenommen.
Der Modernisierungsdiskurs der Partei in der Xi-Ära hat einen tiefen moralischen Unterton: Es wird postuliert, dass China im Gegensatz zum „alten Weg der kapitalzentrierten, polarisierenden und expansionistischen westlichen Modernisierung“ eine bessere, „volkszentrierte Entwicklung“ verfolge und Chinas „Gesamtprozess-Demokratie“ für die Modernisierung besser geeignet sei als die liberale Demokratie. Unter Verweis auf Sun Yat-sens Vision der Modernisierung erklärte Xi Jinping 2020, dass China auf seinem Modernisierungspfad weit über das hinausgekommen sei, was Sun sich vorgestellt habe – und nur die KPCh sei in der Lage gewesen, dies zu erreichen. Liberale Stimmen warnen jedoch davor, dass das Primat der Ideologie vor der Wirtschaft bei Xis Modernisierung im chinesischen Stil die Räume für politische Innovationen geschlossen hat, die den Erfolgsweg der chinesischen Modernisierung überhaupt erst ermöglicht haben.
[1] Linebarger, P., The Political Doctrines of Sun Yat-Sen, The Johns Hopkins Press, 1937.
[2] Strong, A. L., „The Thought of Mao Tse-Tung“, Amerasia, Juni 1947.