Geschichte / 历史
Kurzgefasst
Die Beschäftigung mit der Geschichte beeinflusst das menschliche Handeln, so eine weltweit verbreitete Vorstellung davon, was Geschichte ist. Selbst in China muten George Santayanas berühmte Worte „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“, wahrhaftig an. In weiten Teilen der Welt ist die permanente Neuinterpretation und Instrumentalisierung der Geschichte Realität, wenn auch in sehr verschiedenen Ausprägungen.
1938 wurde unter Stalin in der Sowjetunion das Gebot zur „korrekten“ Geschichtsschreibung festgesetzt. Die Kommunistische Partei Chinas betrachtet in dieser Tradition die Gestaltung der Geschichte seit langem als ein wichtiges Mittel zur Rechtfertigung und Verteidigung der Legitimität ihres Regimes. Unter Xi Jinping hat sich seit Ende 2012 die Betonung der offiziellen Geschichtsauffassung der Partei als Quelle von Macht und Legitimität noch verstärkt.
Analyse
Seit ihren Anfängen in den 1920er Jahren vertritt die Kommunistische Partei Chinas ein materialistisches Geschichtsbild,[1] sprich eine Doktrin des linearen historischen Fortschritts, der durch Klassenkampf vorangetrieben wird. Mit Hilfe dieser sozialistischen Geschichtsschreibung etablierte sich Mao Zedong in den 1940er Jahren als Chinas Revolutionsführer. In den folgenden Jahrzehnten legitimierte diese Geschichtsauffassung die KPCh als revolutionäre und herrschende Partei.
Im ersten offiziellen Beschluss der KPCh zur Geschichte fasste Mao Zedong 1945 die wichtigsten politischen Lehren seit der Gründung der Partei im Jahr 1921 zusammen. Der Beschluss folgte auf Maos erfolgreiche Säuberung seiner politischen Opposition und kritisierte den vermeintlichen Schaden, den der „Opportunismus unter dem Deckmantel linker Gesinnung“ im vorangegangenen Jahrzehnt angerichtet habe. Der Beschluss bekräftigte Maos Vormachtstellung formell und legte damit den Grundstein für die katastrophalen Ereignisse der Kulturrevolution – einem Jahrzehnt, in dem Chinas historisches kulturelles Erbe in hohem Maße zerstört wurde.
Nach Maos Tod schlug die KPCh in der Ära der Reform und Öffnung einen neuen Weg ein. Es bedurfte eines neuen Konsenses zur Geschichte, um einerseits die Fehler und Rückschläge der Ära Maos zu erklären und andererseits die Legitimität der Reformagenda zu untermauern. Die 1981 unter Deng Xiaoping verabschiedete Resolution über einige Fragen in unserer Parteigeschichte seit Gründung der Volksrepublik China (关于建国以来党的若干历史问题的决议) war Ausdruck des Wandels. Die Resolution bekräftigte das Reformprojekt und thematisierte „Fehler in Theorie und Praxis“ der Kulturrevolution, ohne dabei Maos revolutionäre Rolle zu untergraben. Man beharrte darauf, dass Maos „Beiträge zur chinesischen Revolution seine Fehler bei weitem überwiegen.“
Ähnlich verhält es sich mit dem dritten Leitdokument der KPCh zur Geschichte, nämlich der Resolution des Zentralkomitees der KP Chinas über die großen Erfolge und historischen Erfahrungen des hundertjährigen Kampfes der Partei (中共中央关于党的百年奋斗重大成就和历史经验的决议) vom November 2021, welche eine neue Richtung für die KPCh vorgab und ihren Herrschaftsanspruch unter der Führung Xi Jinpings bekräftigte. Dieser Beschluss, der Xi zum Vorkämpfer und charismatischen Führer einer „Neuen Ära des Sozialismus mit chinesischen Prägung” (中国特色社会主义新时代) werden ließ, zementierte seine Macht und sein Erbe. Xis „Neue Ära“, die einen Zeitraum von weniger als einem Zehntel der 100-jährigen Geschichte der KPCh umfasst, machte mehr als die Hälfte des Beschlusstextes aus.
Unter Xi Jinping hat die KPCh ihren Fokus auf die revolutionäre Geschichte der Partei geschärft und nutzt sie als Legitimationsquelle. In den offiziellen Medien spricht sie von „roten Genen“ (红色基因) und stellt den „revolutionären Geist“ und die Geschichte der Partei als politisches und kulturelles Erbe des chinesischen Volkes dar. Sie hat sogar versucht, ihr revolutionäres Erbe mit Kampagnen gegen „historischen Nihilismus“ und mit Gesetzen gegen die Diffamierung von Helden zu schützen. Dies richtet sich gegen jedwede Bestrebungen, die offizielle Geschichtsschreibung der Partei in Frage zu stellen.
Außerdem wurde die „herausragende traditionelle Kultur“ Chinas wieder in den Mittelpunkt gerückt, was sich insbesondere in Xis Konzept des „chinesischen Traums“ von einer „großen Renaissance des chinesischen Volkes“ aus dem Jahr 2012 widerspiegelt. In dieser Vorstellung wird postuliert, dass China nach über einem Jahrhundert der Demütigung durch den Westen ins Zentrum der Weltbühne zurückkehrt – eine Stellung, die die chinesische Zivilisation laut der KPCh-Geschichtsschreibung während eines Großteils ihrer eigenen Geschichte innehatte.
[1] Pang, L., „Mao’s Dialectical Materialism: Possibilities for the Future”, in Rethinking Marxism: A Journal of Economics, Culture & Society, Bd. 28, Nr. 1 (2016), S. 108-123.