Zivilgesellschaft

Zivilgesellschaft
公民社会

Zivilgesellschaft / 公民社会

Zivilgesellschaft / 公民社会

KURZGEFASST

Artikel 35 der chinesischen Verfassung garantiert den chinesischen Bürger:innen das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Der Wortlaut ähnelt auffallend dem Artikel 20 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UDHR), welche die Grundlage für die Entwicklung einer aktiven Zivilgesellschaft mit Nichtregierungsorganisationen (NGO) bildet.

Die EU definiert als Zivilgesellschaft „alle Formen des sozialen Handelns von Einzelpersonen oder Gruppen, die weder mit dem Staat verbunden sind noch von ihm verwaltet werden.“ In China gibt es diese Unabhängigkeit nicht. Sie würde der obersten, in Artikel 1 der chinesischen Verfassung festgeschriebenen politischen Maxime zuwiderlaufen, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) in allen politischen und gesellschaftlichen Belangen die Führungsrolle innehat. Dieser Grundsatz spiegelt sich sowohl im Vokabular als auch in der Art der Akteure wider.

Die chinesische Führung hat in der innenpolitischen Kommunikation den Begriff „Zivilgesellschaft“ nie übernommen. Trotz der Verbreitung privater NGO und Stiftungen seit den 1980er Jahren, spielen partei- und staatlich-organisierte Organisationen (GONGO) nach wie vor eine große Rolle. Der politische Fokus richtet sich darauf, diesen wachsenden Sektor zu regulieren und sicherzustellen, dass alle sozialen Organisationen (社会组织) kontrolliert sowie an Partei- und Staatsorgane angebunden werden. Sie sollen eine kooperative Beziehung mit der Regierung eingehen und sich in den Dienst der politischen Agenda des Staates stellen, statt als eigenständige Akteure zu handeln.

ANALYSE

Xi Jinping hat hervorgehoben, dass soziale Organisationen in allen Bereichen sozialer Angelegenheiten mitwirken sollen. Dies soll Teil einer neuen und innovativen Herangehensweise staatlicher Regierungsführung sein. Allerdings wird man Xi oder einen anderen hochrangigen Beamten kaum von „Zivilgesellschaft“ (公民社会 / 民间社会) sprechen hören, da sich das Konzept im offiziellen Diskurs nie durchgesetzt hat. Auch wenn staatliche Organisationen den Begriff „Zivilgesellschaft“ in der internationalen Kommunikation verwenden, nimmt der Parteistaat dazu eine eindeutige Haltung ein: Er verfolgt die Vision einer staatlich gelenkten Zivilgesellschaft.

Bevor in den 1980er Jahren die Reform- und Öffnungspolitik Chinas eingeleitet wurde, dominierten die großen parteigebundenen Massenorganisationen wie der Allchinesische Gewerkschaftsbund und die von der Partei geführten Graswurzelorganisationen. Sie spielen auch heute noch eine herausragende Rolle und haben gewissermaßen das Monopol auf eine Reihe von Themen und die landesweite Koordinierung hierzu. Die Gründung unabhängiger Gewerkschaften oder religiöser Organisationen ist nach wie vor verboten.

Die zunehmende Modernisierung Anfang der 1990er Jahre führte jedoch zu einer Vielzahl sozialer Probleme und ließ die Nachfrage nach Dienstleistungen und Selbstorganisation in Bereichen steigen, aus denen sich der Parteistaat zurückgezogen hatte. Die Zivilgesellschaft in China wuchs, wobei sich jedoch die Zusammensetzung ihrer Akteur:innen verändert hat. NGO und private Stiftungen spielen heute eine immer wichtigere Rolle im In- wie im Ausland.

In den späten 2000er- und frühen 2010er-Jahren hat sich die Advocacy-Arbeit in rasantem Tempo professionalisiert. Es gab immer mehr Menschenrechtsanwält:innen, und die Zusammenarbeit mit internationalen Akteur:innen wurde intensiver. Das Internet und die sozialen Medien boten eine Möglichkeit zur überregionalen und thematischen Vernetzung. Das löste die Sorge aus, die Zivilgesellschaft könnte zu einer Bedrohung für die Stabilität des Regimes werden. So heißt es im Dokument Nr. 9: „In den letzten Jahren wurde das Konzept der Zivilgesellschaft von westlichen, chinafeindlichen Kräften als politisches Instrument missbraucht […].“

Mitte bis Ende der 2010er Jahre verschwand das Konzept aus öffentlichen Debatten und es kam wiederholt zu Repressalien, insbesondere gegen Advocacy-Organisationen, die sich für bürgerliche Grundrechte einsetzten. Durch rechtliche und institutionelle Reformen wurde die Selbstorganisation eingeschränkt. Damit wurde ein Bereich, der sich weitgehend außerhalb der Kontrolle der KPCh herausgebildet hatte, wieder unter deren Kontrolle gestellt. Heute besteht das vorrangige Ziel darin, durch die Mobilisierung und Lenkung gesellschaftlicher Akteure und Ressourcen die Agenda der KPCh zu verwirklichen, wobei der Staat über finanzielle Förderung soziale Dienstleistungen von gesellschaftlichen Akteur:innen bezieht (政府购买社会服务).

Dabei handelt es sich um eine enge Umklammerung: Nichtstaatlich affiliierte Organisationen unterstehen der Aufsicht einer staatlichen Institution. Die Konformität wird mit Hilfe von Bewertungssystemen überwacht. Seit 2015 läuft eine Kampagne zur Einrichtung von Parteizellen und zur Rekrutierung von Parteimitgliedern in sozialen Organisationen. Ziel ist es, die Organisationen an den Parteistaat zu binden und ihnen dessen Erwartungen zu vermitteln.

Dies geht mit einer strengen Kontrolle internationaler Akteur:innen einher. Das im Januar 2017 in Kraft getretene Gesetz zur Regulierung ausländischer Nichtregierungsorganisationen unterstellt ausländischen NGO einem dualen Aufsichtssystem durch eine staatliche Aufsichtsstelle und die Sicherheitsbehörden. Das Nationale Sicherheitsgesetz für Hongkong bringt seit seinem Inkrafttreten am 1. Juli 2020 weitere Einschränkungen des internationalen Austauschs und der internationalen Zusammenarbeit mit sich, indem es den ausgesprochen zweideutigen Straftatbestand der „Kollusion“ mit ausländischen Kräften einführte. Im Rahmen der Vereinten Nationen bemüht sich China, die Rolle von NGO einzuschränken, da das Regime den Staat als alleinigen Vertreter der gesellschaftlichen Interessen sieht.