Rechtsstaatlichkeit / 法治
KURZGEFASST
Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass der staatlichen Macht durch Gesetze sinnvolle Schranken gesetzt werden. Die Vereinten Nationen definieren Rechtsstaatlichkeit als „ein Prinzip der Staatsführung, bei der alle öffentlichen und privaten Personen, Institutionen und Körperschaften einschließlich des Staates selbst an die Einhaltung von Gesetzen gebunden sind, die öffentlich bekanntgemacht und gegenüber allen in gleicher Weise durchgesetzt werden, über die unabhängig entschieden wird und die mit den internationalen Menschenrechtsnormen und -standards im Einklang stehen.“ In einer rechtsstaatlichen Ordnung ist jeder Mensch vor dem Gesetz gleich, und niemand steht über dem Gesetz. In liberalen Demokratien ist die Rechtsstaatlichkeit mit bürgerlichen und politischen Rechten verbunden und schließt Gewaltenteilung ein.
Die Auffassung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) von Rechtsstaatlichkeit – fazhi (法治) oder yifa zhiguo (依法治国), was wörtlich übersetzt so viel bedeutet wie „gesetzesbasiertes Regieren“ oder „das Land mittels Gesetzen regieren“ – hat mit dem liberal-demokratischen Rechtsstaatskonzept nur wenig gemein. Im „sozialistischen Rechtsstaat chinesischer Prägung“ untersteht die Rechtsordnung der Führung und Aufsicht der Partei. Die KPCh sieht das Recht als Instrument, um Stabilität und Ordnung zu gewährleisten und die Parteiherrschaft zu legitimieren und aufrechtzuerhalten. Fazhi im heutigen Sinne unterscheidet sich so deutlich von dem internationalen Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, dass Rechtsstaatlichkeit chinesischer Prägung wohl eher nicht mit diesem Begriff gleichgesetzt werden sollte.
ANALYSE
Rechtsstaatlichkeit ist seit den frühen 1980er Jahren ein wiederkehrendes Thema in Chinas Reformplänen und im offiziellen Diskurs. Der Wiederaufbau der Rechtsordnung und die Professionalisierung der Justiz waren wichtige Aspekte der Modernisierungsreformen Chinas nach den politischen Kampagnen Mao Zedongs, die in der Kulturrevolution gipfelten. Nach Maos Tod wurden Maßnahmen ergriffen, um eine übermäßige Machtkonzentration zu verhindern und die Befugnisse der Kommunistischen Partei auf staatliche Stellen zu übertragen. Schlüsselbegriffe wie Klassenkampf, Widersprüche und Revolution wurden durch Stabilität, Harmonie und Rechtsstaatlichkeit ersetzt. Es entstanden Rechtsinstitutionen, es wurden neue Gesetzgebungsbereiche ausgearbeitet und juristische Fakultäten an Universitäten eingerichtet. Da sich das Land für ausländische Investitionen und internationale Zusammenarbeit öffnete, gingen viele westliche Staaten davon aus, China werde sich durch Sozialisierung dazu bewegen lassen, internationale Normen anzuerkennen und sich von der Ein-Mann-Herrschaft Mao Zedongs zu einem Rechtsstaat im liberal-demokratischen Sinne entwickeln.
Xi Jinping hat seit seiner Machtübernahme 2012 die Bedeutung gesetzesbasierter Regierungsführung unterstrichen und versprochen, in einer weitreichenden Anti-Korruptionskampagne sowohl „Tiger als auch Fliegen“ zu fangen. 2014 hatte das 4. Plenum des 18. Parteitags der KPCh „Rechtsstaatlichkeit“ zu seinem übergreifenden Thema gemacht und erklärt, diese sei „eine wirksame Garantie für die Verwirklichung der beiden Jahrhundertziele und des chinesischen Traums von der großen Renaissance der chinesischen Nation.“
Während jedoch in den ersten dreißig Jahren der Reform- und Öffnungspolitik das chinesische Justizsystem teilweise entpolitisiert wurde, wurde es im letzten Jahrzehnt wieder repolitisiert. Die Parteiorgane haben sich ihre Pendants in der Regierung untergeordnet und die Führung der Partei wurde mit Hilfe des Gesetzes kodifiziert. 2018 wurde durch eine Verfassungsänderung die 1982 eingeführte Amtszeitbegrenzung für den Staatspräsidenten aufgehoben. Es wurde eine Reihe vager, aber weitreichender Sicherheitsgesetze und -verordnungen erlassen, darunter das im Juni 2020 von Peking verabschiedete Nationale Sicherheitsgesetz für Hongkong. Es steht beispielhaft für Chinas Instrumentalisierung des Rechts und die selektive Einhaltung des Völkerrechts, da es die lokale Legislative Hongkongs umging und das Prinzip „Ein Land – zwei Systeme“ aus der Chinesisch-Britischen Gemeinsamen Erklärung missachtete.
Im November 2020 hielt die KPCh eine Konferenz ab, auf der „Xi Jinpings Gedankengut zur Rechtsstaatlichkeit und ihr Stellenwert als Leitgedanken für eine rechtsbasierte Regierungsführung in China“ für verbindlich erklärt wurden. Dabei wurde betont, wie wichtig es sei, die Führungsrolle der KPCh aufrechtzuerhalten, um China bis zum Jahr 2035 zu einem sozialistischen Land mit Rechtsstaatlichkeit aufzubauen. Dementsprechend solle sich das ganze Land mit Xi Jinpings Gedanken zur Rechtsstaatlichkeit (习近平法治思想) eingehend befassen und sie als „eine der zentralen Säulen des ideologischen Komplexes, die das Land in den kommenden Jahren stützen werden“ begreifen.