Freie Meinungsäußerung / 言论自由
KURZGEFASST
In Artikel 35 der chinesischen Verfassung heißt es: „Die Bürger der Volksrepublik China genießen Rede-, Presse-, Versammlungs-, Vereinigungs-, Prozessions- und Demonstrationsfreiheit.“ Formal gesehen scheint diese Formulierung mit Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UDHR) übereinzustimmen, der lautet: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung.“ In der Praxis jedoch schränkt die regierende Kommunistische Partei Chinas die Ausübung der Meinungsfreiheit erheblich ein, weil sie als potenziell destabilisierend für das Regime angesehen wird.
Damit wird im Kern die zweite Hälfte des Artikels 19 zur Meinungsfreiheit in der UDHR negiert, in der es heißt: „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“ Die KPCh hat einen riesigen personellen und technologischen Apparat entwickelt, damit sie die Verbreitung von Informationen über alle Kanäle, sowohl online als auch offline, überwachen und kontrollieren kann. Dies bedeutet ständige, sogar in Echtzeit stattfindende Eingriffe in das Recht chinesischer Staatsbürger:innen auf freie Meinungsäußerung, auch außerhalb der Grenzen Chinas.
ANALYSE
Seit den 1980er Jahren ist die Geschichte der Medien und der Meinungsfreiheit in China vor allem eine Geschichte der ständigen Bemühungen der KPCh-Führung um ein Gleichgewicht zwischen dem Gebot der Regimestabilität und der prioritären Ziele Reform und Entwicklung. Durch letztere ist die Gesellschaft komplexer und vielfältiger geworden und sucht nach Mitteln und Wegen, ihre Rechte und Interessen gegenüber denen der Partei durchzusetzen.
Als nach 1978 die Reform- und Öffnungspolitik in China Einzug hielt, wurde die extreme Pressekontrolle während der Kulturrevolution (1966-1976), in der alle Presseinhalte von Mao Zedong dominiert wurden, neu bewertet. Anfang der 1980er Jahre kam verstärkt der Begriff „Nachrichtenreform“ (新闻改革) in Gebrauch, und es herrschte die Überzeugung vor, dass die strenge Kontrolle der Presse und Ideologie entscheidend zu den schmerzhaften politischen Kampagnen der vorangegangenen drei Jahrzehnte beigetragen hatten. Im Zuge dieses Reformgeistes wurde die „Freie Meinungsäußerung“ in die chinesische Verfassung von 1982 aufgenommen. Obwohl die KPCh die Presse in den 1980er Jahren weiterhin kontrollierte und Journalismus und Verlagswesen in den Parteistaat eingebettet waren, gab es Bestrebungen, ihre Rolle neu zu bewerten.
Dieser Reformkurs nahm mit den Ereignissen des Jahres 1989 eine dramatische Wendung: Die Zerschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni mündete unter Jiang Zemin in ein neues Regime der Sprachkontrolle im Rahmen einer Politik der „öffentlichen Meinungslenkung“ (舆论导向). Darin zeigte sich, dass die Führung einmal mehr zu der Überzeugung gelangt war, die Ideen und Meinungen der Öffentlichkeit müssten durch eine strenge Kontrolle der KPCh über alle Kommunikationskanäle „gelenkt“ werden, um die Stabilität des Regimes zu sichern und einen Zusammenbruch wie den der Sowjetunion zu verhindern.
Als in den 1990er und 2000er Jahren die Wirtschaftsentwicklung Fahrt aufnahm und mit dem Aufkommen des Internets neue Kanäle für die Meinungsäußerung entstanden, erlebte China eine beispiellose Ära der Medienentwicklung. Dies führte zu einer beachtlichen Zunahme professioneller Medienaktivitäten und sogar zum Entstehen einer investigativen Berichterstattung. Der Auftrag zur „Öffentlichen Meinungslenkung“ blieb jedoch bestehen, und Journalist:innen und Medien wurden ständig überwacht und kontrolliert. Unterdessen entwickelte China ab Ende der 1990er Jahre ein umfassendes System technischer und gesetzlicher Internetkontrollen, das den Zugang zur Außenwelt blockiert und Inhalte im Inland zensiert und oft als „Große Feuermauer“ (Great Firewall) bezeichnet wird.
In der Xi-Jinping-Ära wurden die Kontrollen der Presse und des Internets verschärft, da die KPCh versucht, die Dominanz über alle Kommunikationskanäle, einschließlich des Internets und der neuen sozialen Medien, wiederzugewinnen. Dies war vor allem eine Reaktion auf die Zunahme der freizügigeren Medienberichterstattung sowie Engagement und Kritik der Bürger:innen im Internet seit den 2000er Jahren. In einer Rede im Februar 2016 bekräftigte Xi die Hoheit der KPCh über die Medien. Er betonte, die Medien müssten „den Beinamen ‚Partei‘“ (姓党) führen, und forderte sie zur unbedingten Treue gegenüber dem Regime auf. Unter der mächtigen Cyberspace Administration of China (CAC), die 2014 direkt unter der zentralen Führung der KPCh gegründet wurde, wurden die Kontrollen des Internets und der sozialen Medien verschärft. Das Mandat zur „Lenkung der öffentlichen Meinung“ – nunmehr in gesetzlichen Leitlinien kodifiziert – wurde de facto auf alle Nutzer:innen ausgeweitet.
Angesichts der Kritik an seiner Medienkontrollpolitik beharrt China innenpolitisch darauf, dass diese Politik notwendig sei, um Stabilität und damit die Voraussetzung für Entwicklung zu sichern. Von behördlicher Seite wird oft betont, dass „freie Meinungsäußerung nicht gleich freie Meinungsäußerung ist“. Damit ist gemeint, dass die Meinungsäußerung im Interesse der allgemeinen Bevölkerung eingeschränkt werden muss.